Von Aufrührern, „Vetternwirtschaft“ und einem blutigen Frühstück
Einblicke in die Geschichte der Stadt Heiligenstadt
Von Thomas T. Müller
Für die Betrachtung der
Geschichte Heiligenstadts sind der 3. Mai des Jahres 1525 und der 1.
März des Jahres 1739 von besonderer Bedeutung. Warum dies so
ist, sollen die nachfolgenden Zitate erläutern.
Sie stammen beide aus dem Jahr 1800 und wurden von einem bedeutenden Eichsfelder
Chronisten, dem ehemaligen Heiligenstädter Jesuiten und späteren
Nörthener Kanonikus Johann Wolf niedergeschrieben. Wolf, der
gern auch als „Vater der eichsfeldischen Geschichtsschreibung“
tituliert wird, ist noch heute sehr bekannt und seine Arbeiten
genießen hohes Ansehen. Sicher sind einige seiner Aussagen nach
200 Jahren etwas überholt, dennoch muß ihm die Ehre
gebühren, daß er sich zeit seines Lebens an einen
Grundsatz gehalten hat, der heute ebenso wie im 18. und 19.
Jahrhundert aktuell ist. Im Vorwort seiner 1792 erschienenen
„Politischen Geschichte des Eichsfeldes“ schrieb er: „Die
erste und heiligste Pflicht des Geschichtsschreibers ist, so zu
schreiben, wie die Sachen an sich sind, nicht wie sie einige sich
einbilden oder wünschen.“
Wolf geht in seiner Geschichte der Stadt Heiligenstadt unter anderem auf die Geschehnisse
des Bauernkrieges und ihren Einfluß auf die Stadt ein:
Am 2. Mai zog der große Mühlhäuser und Eichsfelder Bauernhaufen unter Führung
von Heinrich Pfeiffer und Thomas Müntzer vor die Tore der Stadt,
um hier sein Lager aufzuschlagen. An diesem Abend wurde nur der
ehemalige Mönch des eichsfeldischen Zisterzienserklosters
Reifenstein, Heinrich Pfeiffer zu Verhandlungen mit dem Rat
eingelassen, erst am nächsten Morgen durfte auch Müntzer
das Tor passieren. Was an jenem 3. Mai 1525 geschah, schildert nun
Wolf:
„Am meisten war ihnen Münzer, der Feldprediger und General zugleich war,
willkommen, dessen Predigt sie auf dem Kirchhofe u[nserer] l[ieben]
F[rau], weil die Kirche nicht alle Zuhörer gefaßt hätte,
sehr begierig anhörten. Hätte Münzer von der Liebe des
Nächsten, auch seiner Feinde, von der Verläugnung seiner
selbst, von dem Gehorsam gegen die Obrigkeit gepredigt: so würde
er, wie andere, kaltsinnig angehört worden sein, da er aber
Religion gegen die Obrigkeit, Haß wider den Priesterstand und
Freiheit von Abgaben predigte: so wurden seine Zuhörer bald
entflammt, und konnten kaum das Ende der Predigt abwarten, ihre
Vorsätze auszuführen. Vom Kirchhofe ging der andächtige
Zug auf das Stift; da plünderten Bürger und Bauern die
Geistlichkeit; nahmen ihnen die Privilegienbriefe weg, und zwangen
sie zu allen bürgerlichen Lasten. Aus den Kirchen wurden die
Kleinodien entwendet; selbst der Gottesdienst wie auch die Ceremonien
sollten theils abgeschafft, theils abgeändert werden.“
Wie hier zu erfahren ist, waren nicht nur Wertgegenstände Ziel der Plünderungen,
sondern auch das „Archiv“ des Heiligenstädter
Martinsstiftes wurde gefleddert. Wahrscheinlich gingen bereits bei
diesem relativ spontanen Sturm auf das Stift neben den jüngeren
Privilegienbriefen auch die älteren Urkunden des Stiftes und
damit die der ältesten Heiligenstädter Institution
verloren.
Die städtische Überlieferung wurde am 1. März 1739 ein Opfer der Flammen.
Auch hier soll Johann Wolf zu Wort kommen:
Am 29. Februar 1739 verzehrte das Feuer einen Gasthof bei dem Bergthore. Dieser Vorfall
war gleichsam der traurige Vorbote des schrecklichen Brandes, welcher
am folgenden Tage beinahe die ganze Stadt in Asche legte. Das Feuer
ist in der Windischen Gasse nicht weit vom Bergthore in einer
Scheuer, man weiß nicht wie, aufgekommen, da der größte
Theil der Bürger in der Brüderschaft von der Todesangst
Christi genannt, versammelt war. Alles eilte herbei, das Feuer im
ersten Ausbruche zu ersticken, aber vergebens. Denn ein heftiger
Südwind kam dem gefräßigen Element zu Hilfe und trieb
die Flammen mit Gewalt, an die nächsten Häuser auf der
Neustädter Straße; von da flogen Funken in die Altstadt so
häufig, daß, ehe eine Stunde verging, überall Häuser
in Brande standen. Dies machte, daß nun jeder Bürger sein
eignes Haus, oder wenigstens sein Hausgeräth zu retten suchte,
folglich keiner dem anderen mehr helfen konnte. Zur Vermehrung des
Unglücks drehte sich gegen 10 Uhr des Nachts der Wind von Westen
auf Nordosten, und setzte von dieser Seite den bisher noch
verschonten Theil der Stadt, bis ans Geisleder Thor auch in Flammen.
Ihre Wuth war zu heftig, als daß die häufig
herbeigekommenen Bauersleute derselben Einhalt thun konnten. Doch
gelang es einigen beherzten Männern, die sich mitten durchs
Feuer wagten, die Kirche zu u[nser] l[ieben] F[rau], welche auch
schon ergriffen war, noch zu retten. Den anderen Morgen um 6 Uhr
lagen 405 Häuser, nebst Scheuern und Stallungen in der Asche,
nur die Windische Gasse, die Häuser am Bergthore über das
Stift und den Knickhagen hin, bis an das Holzbrückenthor blieben
stehen.“
Unter den zerstörten Häusern war auch das Rathaus der Stadt. In Wolfs Beschreibung
wird dies zwar nicht explizit erwähnt, doch seine Vorlage geht
darauf ein. Da Wolf selbst den Brand nicht miterlebte, mußte er
auf den Bericht eines Augenzeugen zurückgreifen. Als Ex-Jesuit
lag für den „Vater der eichsfeldischen
Geschichtsschreibung“ natürlich nichts näher, als die
Aufzeichnungen seiner Vorgänger im Heiligenstädter Kolleg
heranzuziehen. So geht Wolfs Beschreibung wohl auf die sehr
ausschweifende Ausmalung des Geschehens durch einen leider
unbekannten Jesuiten zurück, der seine Erlebnisse in der Chronik
des Heiligenstädter Jesuitenkollegs niedergeschrieben hatte. Bei
ihm findet sich auch die Erwähnung des Rathausbrandes:
„Der Feind [gemeint ist das Feuer, Th. M.] wurde immer stärker und befahl
allen, allen sage ich – wir waren bis zum Tode erschöpft
und mehrere hatten auch schon schwere Brandwunden erlitten –
gegen 12 Uhr nachts das Haus zu verlassen, durch die überall
lodernden Brände zu gehen und Rettung zu suchen. Dann brannte
das Rathaus – die Schule ging in Flammen auf, alles, alles
geriet in Brand, schwankte, brannte ab und stürzte zusammen.“
Unter dem wenigen, was aus dem Rathaus, in dem sich die Urkunden der Stadt befanden,
gerettet wurde, war das alte Heiligenstädter Stadtrecht, die
Willkür aus dem Jahr 1335. Vielleicht lassen sich die wohl durch
Abklatsch entstandenen heute unleserlichen Stellen in dem Band sogar
auf Löschwasser zurückzuführen, mit dem das Feuer im
Rathaus bekämpft worden war. Auch wenn Johann Wolf schon im Jahr
1800 von diesen Schäden berichtete, ist dies jedoch Spekulation.
Tatsache jedoch ist, daß aufgrund dieser beiden Ereignisse die Überlieferung
zur Heiligenstädter Stadtgeschichte überaus dürftig
ist. Für Untersuchungen zur Frühgeschichte des Ortes müssen
ausschließlich auswärtige Quellen herangezogen werden.
Heiligenstadt, der Hauptort des ehemals kurmainzischen Eichsfeldes, einer Region zwischen Werratal
und Harz, wurde im Jahr 973 erstmals urkundlich erwähnt. Kaiser
Otto II. verhandelte in „Heiligenstat“ eine Urkunde über
eine Schenkung an Bischof Abraham von Freising. Mit dieser Dotation
begann eine Reihe von nachweisbaren Besuchen deutscher Kaiser und
Könige in dem Ort an der Leine. So stellte auch König Otto
III. im Jahr 990 zwei Urkunden in der Stadt aus. Für den 29. Mai
1153 und für den 1. Februar 1169 ist König bzw. Kaiser
Friedrich I. (Barbarossa) in Heiligenstadt nachweisbar.
Ebenso wie diese Besuche sprechen auch die zahlreichen Aufenthalte deutscher Bischöfe –
mindestens 18 zwischen 990 und 1300 – für die Bedeutung
der Siedlung im Mittelalter. Insbesondere die Weihe Gerdags zum
Bischof von Hildesheim sowie Burchards I. zum Bischof von Worms in
den Jahren 990 und 1000 durch Erzbischof Willigis von Mainz sowie die
Konsekration Burchard I. von Halberstadt durch Erzbischof Bardo von
Mainz im Jahr 1036 untermauern die Stellung Heiligenstadts im 11. und
12. Jahrhundert als neben Erfurt wichtigstem Aufenthaltsort der
Mainzer Erzbischöfe im heutigen Thüringen.
Die besondere Stellung der Siedlung wird aber auch durch die sehr wahrscheinlich im Juli 1093 hier
erfolgte Provinzialsynode unter Leitung des Mainzer Erzbischofs
Ruthard hervorgehoben. Ebenso sollte wohl der Besuch Kaiser Friedrich
Barbarossas dessen Absicht demonstrieren, Heiligenstadt als wichtigen
Kurmainzer Stützpunkt zukünftig mehr in seine
reichspolitischen Pläne einzubeziehen.
Neben Heiligenstadt war die Burg Rusteberg für das Eichsfeld von besonderer Bedeutung. Von dort
verwalteten die Mainzer Erzbischöfe nachweislich seit der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts ihren eichsfeldischen Besitz.
Erzbischof Adalbert I. setzte im Zuge der Dezentralisierung seiner
Territorialverwaltung auf dem Rusteberg einen Viztum ein. Erst 1540
wurde das Amt nach Heiligenstadt verlegt.
Zusammen bildeten Heiligenstadt als Hauptort und der Rusteberg als wichtigste Festung den Grundstock für
den weiteren Ausbau der Mainzer Besitzungen im Eichsfeld. Doch erst
im Jahr 1294 gelang es Erzbischof Gerhard II. mit dem Kauf der Burgen
Gleichenstein, Scharfenstein und Birkenstein, den Mainzer Besitz
weiträumig auf das Umland auszudehnen.
Heiligenstadt kam in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens neben der politischen vor allem auch
eine kirchliche Bedeutung zu. Die St.-Martins-Kirche gilt im Ursprung
als das älteste Gotteshaus der Region. Während die
Ersterwähnung des hier ansässigen Stiftes erst in einer
Urkunde Kaiser Heinrichs II. im Jahr 1022 erfolgte, geht die
Forschung nahezu geschlossen davon aus, die Gründung des Stiftes
einige Jahrzehnte früher anzusetzen. Archäologisch
nachgewiesen ist mittlerweile die Bedeutung des Stiftes zur Zeit des
Erzbischofs Willigis, doch auch weit ältere Schichten wurden bei
den Ausgrabungen des Thüringischen Landesamtes für
Archäologische Denkmalpflege unter Dr. Wolfgang Timpel in den
Grabungskampagnen der 1990er Jahre nachgewiesen.
Umstritten ist in diesem Zusammenhang die Existenz einer königlichen Pfalz in Heiligenstadt. So
negiert der Marburger Pfalzenforscher Dr. Michael Gockel im Band
Thüringen des Sammelwerkes „Die deutschen Königspfalzen“
das Vorhandensein eines ottonischen Königshofes in der
Eichsfeldstadt. Er vermutet vielmehr die Existenz eines Herrenhofes
der Mainzer Erzbischöfe, der auch zur Aufnahme der Könige
diente. Tatsächlich wurde bei den Grabungen in der unmittelbaren
Nähe der Kirche ein äußerst repräsentativer Bau
entdeckt, der sogar eine direkte Verbindung zur Kirche aufwies.
Einige bei den Untersuchungen freigelegte Funde (u. a.
Schreibgriffel) deuten auf einen hohen Bildungsstand der Bewohner der
prächtigen Anlage hin. Ob diese nun ausschließlich von
Untergebenen des Mainzer Erzbischofs bewohnt wurde oder ob auch
königliche Ministerialen hier einen wie auch immer gearteten
Stützpunkt unterhielten, ist wohl nicht eindeutig zu klären.
Aufgrund der engen Verbindung zwischen den ottonischen Herrschern und insbesondere dem
Reichskanzler und Mainzer Erzbischof Willigis erscheint aber auch
eine solche Zwischenvariante denkbar. Vor allem dem Reichskanzler war
viel an der Stadt gelegen. Jüngste Forschungen weisen in diesem
Zusammenhang erneut auch auf ein Heiligenstadt zugeschriebenes
Festtagslektionar aus dem letzten Drittel des 10. Jahrhunderts hin,
welches sich heute in Aschaffenburg befindet. So wird vermutet, daß
der in Fulda gefertigte Prachtband als Geschenk eines hochrangigen
Vertreters der Kirche oder auch des Reiches an das Martinsstift
geschenkt wurde. Doch mehr noch als dies stellen vor allem die beiden
von Willigis in Heiligenstadt vorgenommenen Bischofsweihen ein
Zeugnis für die Förderung der Stadt durch den Mainzer
Erzbischof dar. Während die Weihe Bernwards von Hildesheim, die
zeitweilig ebenfalls nach Heiligenstadt verlegt worden war, nicht im
Eichsfeld stattfand, sind die Nachrichten über die Weihen
Gerdags und Burchards durch Willigis für Heiligenstadt
gesichert.
In einer Urkunde des Heiligenstädter Martinsstiftes aus dem Jahr 1201 wurde mit „Conradus
nummularius de Heiligenstat“ der erste Münzmeister und
damit auch erstmals eine Münzstätte im Ort erwähnt.
Die erzbischöfliche Münzstätte war jedoch
möglicherweise bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts tätig.
Während der Amtszeit des Mainzer Erzbischofs Siegfried II. erhielt der Ort vermutlich das Stadtrecht.
Die jüngere Literatur ist mit wenigen Ausnahmen den Mutmaßungen
Johann Wolfs gefolgt und gibt ohne jegliche Belege 1227 als Jahr der
Verleihung des Stadtrechtes an. Weder urkundlich noch auf andere
Weise läßt sich dieses Datum verifizieren. Fest steht
allerdings, daß in der Amtszeit Erzbischof Siegfrieds II.
(1200-1230) die grundlegenden Voraussetzungen geschaffen wurden, um
der Altstadt mit dem Zentrum „St. Marien“ im Süden
die Neustadt mit der Kirche St. Aegidien hinzuzufügen. Außerdem
ließ der Bischof die Stadt durch Graben und Mauer sichern.
Die Informationen über diese Vorgänge beruhen zum größten Teil auf einer Urkunde
Erzbischof Siegfrieds III. Dieser hatte im Jahr 1239 zugunsten des
Heiligenstädter Martinsstiftes auf das Patronatsrecht über
die Neustädter Kirche „St. Ägidien“ verzichtet,
nachdem der Propst des Martinsstiftes sich darüber beschwert
hatte, daß die neue Kirche, deren Patronat sich Erzbischof
Siegfried II. vorbehalten hatte, ihm Einbußen beschere, da sich
das Patronat der Marienkirche, welches dem Stift gehörte,
bislang über die gesamte Stadt erstreckt hatte.
In jener Urkunde erklärte nun Siegfried III: „dominus Syffridus bone memorie
archiepiscopus, predecessor noster in parochie dicte limitibus de
novo construxerat villam quandam, nowum videlicet oppidum
Heiligenstad, et nasci novam parochiam voluit in eadam“.
„Herr Siegfried, seligen Angedenkens Erzbischof, unser Vorgänger, hat in den Grenzen des
genannten Pfarrbezirkes eine gewisse Siedlung, nämlich die neue
Stadt Heiligenstadt, neu errichtetet und beschlossen, daß in
ebendiesem ein neuer Pfarrbezirk entstehen solle.“
Wenn nun also bereits von der Stadt Heiligenstadt gesprochen wurde, wird auch die Verleihung der
Stadtrechte im Zusammenhang mit der Gründung der Neustadt
erfolgt sein. Im Kontext mit den Stadtrechten ist es natürlich
auch notwendig, auf die bereits erwähnte Heiligenstädter
Willkür zu sprechen zu kommen.
Über die Entstehungszeit der Heiligenstädter Willkür gibt sie selbst in den ersten
Zeilen Auskunft: „Wyr, di ratmanne disses iares, so men
czelit noch Christi gebort millesimo CCC in deme XXXV. iare, syn
eyntrechtig worden (...) umme der stat wilkor (...)“.
Ein einschneidendes Erlebnis für die zumindest dem Begriff nach noch fast vollständig
katholischen Heiligenstädter wurden – wie oben bereits
angedeutet – die Geschehnisse am 2. und 3. Mai 1525, als
Heinrich Pfeiffer und Thomas Müntzer mit den Aufständischen
vor der Stadt lagerten und sich unter ihrem Einfluß innerhalb
der Stadttore Tumulte ereigneten.
In den Folgejahren schlossen sich auch zahlreiche Eichsfelder den neuen Lehren Luthers und seiner
Prediger an, so daß selbst in der Hauptstadt des kurmainzischen
Eichsfeldes, in Heiligenstadt, im Jahr 1560 lutherische Prediger ihr
Handwerk versahen. Der moralische Verfall der Klöster tat ein
übriges und erst nach einer Visitationsreise des Mainzer
Erzbischofs Daniel Brendel von Homburg 1574, bei der er feststellen
mußte, daß in ganz Heiligenstadt nur noch zwölf
Familien dem alten Glauben anhingen, wurden ernste Maßnahmen
zur Rekatholisierung der Region unternommen.
Die Hauptlast an dieser schwierigen Aufgabe kam den Mitgliedern des 1575 gegründeten Heiligenstädter
Jesuitenkolleg zu. Daß diese ihre Arbeit sehr ernst nahmen,
läßt sich nicht nur leicht an den vollständig
erhaltenen Jahresberichten ersehen, sondern auch an dem heutigen
prozentualen Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten im
Heiligenstadt und dem Eichsfeld.
Neben ihrem gegenreformatorischen
Wirken sind die Jesuiten in Heiligenstadt aber auch als Begründer
eines traditionsreichen Schulstandortes tätig geworden. Aus
ihrer Schule stammen zahlreiche bedeutende Gelehrte des 16., 17. und
18. Jahrhunderts.
Unter anderem zählen zu diesen:
Johann Melchior von Birkenstock (1738-1809), Diplomat in Wien, Paris und Frankfurt, Vertrauter Kaiser
Josephs II. und Maria Theresias, Freund und Förderer von Clemens
und Bettina von Brentano, Ludwig van Beethovens und des Historikers
Johannes von Müller.
Konrad Wilhelm Strecker (1689-1765),
Prof. der Rechtswissenschaften zu Erfurt, Erfurter Bürgermeister
(1734) und Rektor der Erfurter Universität (1742-1746).
Johann Moritz von Gudenus
(1639-1688), Jurist, Erfurter Bürgermeister und Rektor der
Universität (1680-82).
Johann Christoph Hunold (1690-1770),
Pfarrer, Kirchenrechtler, Regens des Prager Priester-Seminars, Rektor
der Erfurter Universität (1758-59) und einer der Begründer
des Erfurter Krankenhauses „St. Johannes Nepomuk“.
Bereits im Jahr 1583 konnten die
Jesuiten in ihrem Jahresbericht frühe Erfolge ihrer
Bildungsarbeit vermerken: „die ersten Früchte unserer
Schule ernteten wir, als 4 Zöglinge Priester wurden und eine
Pfarrei übernahmen und einige sich zu höheren Studien auf
eine Universität begaben.“
Im Jahr 1626 raffte der „schwarze
Tod“ acht Mitglieder des Kollegs und mehr als ein Drittel der
Schüler dahin. Natürlich waren auch unter der
Stadtbevölkerung zahlreiche Opfer zu beklagen. Allein im Monat
September starben 200 Männer, Frauen und Kinder. Rund
600 Menschen waren bereits im Jahr 1611 der Seuche zum Opfer gefallen
und weitere 1000 Einwohner erlagen ihr im Jahr 1682.
Fast ebenso schlimm wie die Pest wütete jedoch der Dreißigjährige Krieg im
Durchzugsgebiet Eichsfeld und seiner Hauptstadt Heiligenstadt. Den
ersten indirekten Kontakt mit diesem schlimmsten Krieg der frühen
Neuzeit hatte das Eichsfeld im Jahr 1619, als zwei vertriebene Prager
Jesuiten im Heiligenstädter Kolleg Zuflucht suchten. Um einiges
näher war das Geschehen 1622 gerückt, als Herzog Christian
von Braunschweig-Lüneburg, im Volksmund wegen seiner Brutalität
nur der „tolle Christian“ genannt, das Eichsfeld
heimsuchte. Vor allem das Untereichsfeld traf dieser Besuch hart.
Heiligenstadt hingegen konnte sich durch die Zahlung von 2825 Talern
von Einquartierungen freikaufen.
Die nächste Begegnung mit feindlichen Truppen erlebten die Heiligenstädter im Dezember
1631 als der schwedische Oberst-Lieutnant Georg von Uslar mit 1000
Reitern acht Tage im Eichsfeld lagerte. Als Beute konnte er ohne
nennenswerte Gegenwehr 118 Pferde samt Wagen und Geschirr mit sich
nehmen.
Ein Jahr später wurde der Oberamtmann des Eichsfeldes im Februar nach der Einnahme des zur
Festung ausgebauten Duderstadts gefangengenommen und auf die Erfurter
Cyriakusburg verbracht. Das Eichsfeld kam daraufhin an Herzog Wilhelm
von Weimar. Im April ließ dieser zwei Kompanien unter dem
Befehl der Rittmeister Heppen und Georg von Wenthen nach
Heiligenstadt verlegen. Wie diese von kaiserlichen Truppen am 15. Mai
aus der Stadt vertrieben wurden, beschreibt ein Augenzeuge nicht ohne
Sarkasmus in den Jahresaufzeichnungen des Heiligenstädter
Jesuitenkollegs:
Als also die Besetzung Heiligenstadts
„beim kaiserlichen Heer in Einbeck bekannt wurde, - dieser
befestigte Ort liegt in der Grafschaft Grubenhagen und ist ungefähr
siebentausend Doppelschritte von hier entfernt, bestimmte es wohl den
Oberst Maximilian Goltz von Kranz, Leute nach Heiligenstadt zu
schicken, die mit diesen schönen Soldaten frühstücken
sollten. Das wurde dann auch gründlich besorgt, denn beim
Morgengrauen waren die Gastfreunde unerwartet da.
Und in der Tat konnte man ein Elend erleben: Der eine der beiden Rittmeister, der anwesend war und das
Kommando hatte, ließ den Trompeter nur halb angezogen durch die
Stadt laufen und das Signal blasen. Die meisten Reiter versammelten
sich, um den feindlichen Gast abzuwehren, aber vergeblich: denn die
Goltzianer saßen ab, fanden durch die Torspalten einen
Bleihagel, um die Leute, die drinnen Widerstand leisteten,
abzuwehren, bis andere die Torriegel erbrachen und sich einen Weg
bahnten. Und so drangen Sie mit Geschrei ein und es entstand ein
unglückseliges Blutbad, aus dem nur ganz wenige entkamen.“
Doch die kaiserliche Besatzung konnte sich in Heiligenstadt auch nicht viel länger
als zwei Wochen halten. Nachdem der Handstreich in Weimar bekannt
geworden war, wurde Graf von Löwenstein beauftragt, die Stadt
wieder einzunehmen, was ihm schließlich im zweiten Anlauf auch
gelang.
Was nun folgte, waren einige Jahre unter der Besatzung, verbunden mit verschiedenen
Truppendurchmärschen und Plünderungen und Verhaftungen. Ab
1633 behandelte der Herzog Wilhelm von Weimar das Eichsfeld als sein
Eigentum, welches ihm vom König von Schweden geschenkt worden
war. So setzte er sogar eine „Fürstlich Sächsisch
weimarsche uffs Eichsfeld verordnete Landesregierung“ ein.
Statthalter wurde Christoph Friedrich von Essleben. Doch dieses
Zwischenspiel dauerte nur bis zum August 1635, als das Eichsfeld im
Zuge des Prager Friedens an den Mainzer Kürfürsten
zurückgegeben werden mußte.
Im weiteren Kriegsverlauf erfolgten später erneut schwedische Besatzungen
und die Stadt wurde allein im Jahr 1640 fünfmal geplündert.
Im August 1647 machte General-Lieutnant Wrangel zwei Tage mit etwa
3000 bis 4000 Soldaten in Heiligenstadt Station und noch im Jahr 1650
hielt der hessische Rittmeister Aschenberg die Stadt mit einer
Kompanie Reiter besetzt.
Was nach dem Abzug der letzten Soldaten übrig blieb, glich einem Scherbenhaufen.
Heiligenstadts Bewohner waren von Krieg und Pest aufgezehrt. Es
dauerte Jahre, bis wieder ein Aufschwung bemerkbar wurde. Ein
deutliches Zeichen dafür, daß dieser jedoch zustande kam,
war in den Jahren 1736-1738 der Bau des Heiligenstädter
Schlosses. Ein besonderer Förderer des Eichsfeldes und der Stadt
Heiligenstadt war Hugo Franz Karl von Eltz-Kempenich, der die Region
als Kurmainzer Statthalter von 1732-1779 verwaltete. Als Neffe des
Mainzer Kurfürsten wird er diesen Posten nicht zufällig
erhalten haben, doch dieser Fall von „Vetternwirtschaft“
brachte für das Eichsfeld nur positive Aspekte. So wurde in der
Amtszeit Hugo Franz Karls das Bildungssystem grundlegend reformiert
und es entwickelte sich eine rege Bautätigkeit. Dies alles
gelang jedoch nur durch den Einsatz hoher finanzieller Zuwendungen
aus der Privatschatulle des Statthalters.
Einen schweren Rückschlag erlebte nicht nur die Bildung in der Stadt durch die
Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Klemens XIV. am 21. Juli
1773. So erhielt der Rektor des Kollegs am 9. September 1773 vom
Kommissarius des Eichsfeldes den Befehl des Mainzer Kanzlers, daß
das Kolleg und die Schule geschlossen werden müsse. Bereits in
der folgenden Nacht erschien der Mainzer Statthalter in Erfurt, Karl
Theodor von Dalberg, morgens um 4 Uhr, um im Namen des Kurfürsten
die Auflösung des Kollegs zu verkünden und dasselbe für
den Staat in Besitz zu nehmen. Die Mitglieder des Kollegs wurden
aufgefordert, sich in nur einer Stunde reisefertig zu machen, und
danach vorläufig in den umliegenden Männerklöstern
interniert.
Unter den 18 Männern, die von dieser Anweisung betroffen waren, befand sich auch Johann
Wolf. Der bereits mehrfach erwähnte „Vater der
eichsfeldischen Geschichtsschreibung“ war zuvor im Kolleg
Professor der Poetik und sowohl Katechet als auch Beichtvater an der
Kirche „St. Marien“ gewesen. Wolf gehörte zu den
fünf Jesuiten, die für zwei Wochen im Zisterzienserkloster
Reifenstein interniert wurden. Später ging er nach Nörthen,
wo er Stiftsherr wurde und nach 1802 infolge der Inbesitznahme des
Eichsfeldes durch Preußen und später durch den
napoleonischen König von Westphalen auch die Säkularisation
der restlichen Eichsfelder Klöster erleben mußte.
In die nun folgende preußische Herrschaft über das Eichsfeld fallen drei
Begegnungen Heiligenstadts mit einigen bedeutenden Personen, neben
Goethe, der auf seinen zahlreichen Reisen ja allerorts einkehrte,
kamen auch die Gebrüder Grimm nach Heiligenstadt, um ihr die
Herausgabe des Grimmschen Wörterbuches zu besprechen.
Heinrich Heine, Deutschlands großer Dichter und unbestritten auch einer der
großen Satiriker, ließ sich am 28. Juni 1825 in
Heiligenstadt evangelisch taufen.
Länger als all jene hielt sich der Lyriker und Novellist des deutschen Nordens,
Theodor Storm, in Heiligenstadt auf. Als Kreisrichter wirkte er hier
von 1856-1864. Hier entstanden acht Novellen und drei Märchen,
u.a. 1861 die berühmte Novelle „Veronika“.
Um die Reihe der bedeutenden Heiligenstädter zu komplettieren sei noch auf den
Bildschnitzer Timan Riemenschneider verwiesen, der in der
Eichsfeldstadt das Licht der Welt erblickte.
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